Posts Tagged ‘geliehen vom Befreier’

Baden-Württemberg

August 15, 2009

erleiden

dreiunddreißig
fünfundvierzig
achtundsiebzig
nullsieben
ist geblieben
was damals rechtens war
kann heute nicht
nicht unrecht sein
weg damit mit allem
ns-vollzugsjustiz
nach der befreiung
schieß los
feuer ab
aus gewehren
geliehen vom befreier
schnell weg damit
kann sich nicht wehren
muss drittes reich entbehren
lass es sprießen
jetzt erst recht erschießen
da das reich schon nicht mehr
bereits auf dem mist
ganz entschlossen
fürs vaterland erschossen
mit gedächtnisschwund
hatte nicht entscheidungsfreiheit
wie von bösen unterstellt
hat erlebt und erlitten
gegen seinen willen
im namen des schon toten führers
kalt erschossen
ewig gültig die ns-gesetze
hallt es achtundsiebzig
nullsieben ruft es nach
in öffentlicher rede
ernst gemeint wie jede
bleibe so stehen
will nachfolger
das zwangsbefreite volk
stellt nichts dagegen
auf seinen wegen

horst nägele

STUTTGARTER WOCHENBLATT 14. 01. 2010

(Stadtteil NECKARHAFEN)

Kindheitserinnerungen eines Untertürkheimers

Horst W. Nägele schreibt über die Nachkriegszeit in den Neckarvororten

UNTERTÜRKHEIM/FÜNEN

„Schwimmzüge“ heißt das Buch des Autors Horst W. Nägele, der auf der dänischen Insel Fünen lebt, aber in Untertürkheim aufgewachsen ist. 1934 geboren, beschreibt Nägele in seinem beinahe lyrisch anmutenden Prosaband Geschichtliches aus Untertürkheim, Bad Cannstatt und der Umgebung aus den Jahren 1944 und danach.

Horst W. Nägele gehört der Generation an, die als Kinder Nazideutschland erleben mussten, um ihre Kindheit gebracht worden sind und dann in eine Nachkriegszeit gerieten, in der materiell alles gut war, aber von ihren Traumatisierungen keiner etwas hören wollte. Schwimmzüge“ ist ein Buch, das beweist, dass eine Vergangenheit, auch wenn sie nicht erwünscht ist, sich ihren Platz greift: An lebensbedrohlichen Situationen wird ein Leben lang gelitten. Sie verlassen einen nie.

Frieder, der Protagonist des Buches, ist in den Ebbsog an der Atlantikküste geraten und ringt verzweifelt mit dem Tod. Dann setzt endlich die Flut ein und spült ihn ans Ufer zurück.

Auf dem durchwärmten Sand durchlebt er noch einmal das Kriegsjahr 1944 und die Zeit danach.

Es durchzucken ihn all die Urängste, die er mit sich trägt seit der Kriegszeit. Er ist wieder der zehnjährige Junge in einer Bombennacht 1944. Es brummt von Fliegern, es schlagen Bomben ein. „Ein schmales Buch, das mit Wucht von unfasslicher existenzieller Not erzählt“, urteilt ein Rezensent.

Nägele hat in Untertürkheim das Abitur gemacht und war leitend auf Postämtern in Esslingen, Stuttgart und Sindelfingen tätig. Er lebt seit Jahrzehnten in Dänemark und ist dort als Skandinavist tätig. Diese Distanz zu Deutschland erlaube ihm einen kritischeren Blick als seine Generation ihn sich sonst zutraut, heißt es in einer Rezension der „Schwimmzüge“. Nägele hat schon mehrere Bücher veröffentlicht. Er schreibt auch auf Dänisch und hat seinen Platz in der Literaturlandschaft Dänemarks.

Geschichten aus der Vergangenheit

Besprechung in der CANNSTATTER/UNTERTÜRKHEIMER ZEITUNG vom 2. Februar 2010

UNTERTüRKHEIM: Horst W. Nägele verarbeitet im Buch „Schwimmzüge“ seine Kindheitserinnerungen

(jps) – In seinem Buch „Schwimmzüge“ verarbeitet der in Luginsland aufgewachsene Horst W. Nägele seine Kindheitserinnerungen aus der Zeit der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Der seit Jahrzehnten auf der dänischen Insel Fünen lebende Autor fühlt sich seiner schwäbischen Heimat bis heute sehr verbunden.

Frieder, ein Rucksackreisender Anfang dreißig, ringt vor der Atlantikküste mit dem gewaltigen Sog des Ebbstroms. Zurück an den Strand gespült, hört er die volle Stunde schlagen und nach dem Sog des Wassers zerrt nun ein Sog der Erinnerungen an ihm. Unvermittelt sieht er sich zurückversetzt in das Jahr 1944, als zehnjähriger Junge flüchtend vor den Angriffen der alliierten Bomber über Stuttgart.

„Schwimmzüge“ heißt das Buch von Horst W. Nägele, der mit der Geschichte Frieders auch die eigene Vergangenheit aufarbeitet. Seine Kindheit, die geprägt ist von den wiederkehrenden Fliegerangriffen, den Bomben auf das Daimler-Werk, der Angst und der Ohnmacht angesichts der lebensbedrohlichen Situation. Was für beide bleibt, ist die Flucht aus Luginsland, Anfang März, nur zwei Tage nach einem verheerenden Angriff der Alliierten mit über 500 Bombern : „Nur weg von hier – weit weg! Zu Fuß mit den anderen zusammen die acht Kilometer bis nach Obertürkheim, von wo noch ein Vorortszug nach Esslingen ging – und dort gleich in einen Zug Richtung Tübingen!“ Doch er kehrt zurück, nach Hause zur Mutter, die zu ihm sagt: „Wenn wir schon sterben, dann wenigstens zusammen.“ Nägele erzählt von den Plünderungen, den Entbehrungen der Nachkriegszeit, von der langsamen Rückkehr in die vermeintliche Normalität und davon, dass einen das Erlebte nie ganz loslässt. Es sind Eindrücke, die bis heute haften geblieben sind.

Geboren 1934 studiert Nägele, der in Untertürkheim sein Abitur gemacht hat, Anfang der 60er-Jahre Germanistik, Skandinavistik, Anglistik und Philosophie an den Universitäten in Kiel und Newcastle upon Tyne. Es folgt ein Auslandssemester im dänischen Aarhus, wo er sich intensiver mit der dänischen Literatur beschäftigt, besonders der Schriftsteller Jens Baggesen hat es ihm angetan. Und das Land selbst. Der Schwabe bleibt, wird sesshaft auf der Insel Fünen, unterrichtet an der Hochschule Sprachen, widmet sich seinen literarischen Forschungen. In den 80ern dann beginnt er selbst ein Buch zu schreiben, auf Dänisch. „Mehr aus Jux“, wie er sagt, doch ein Verlag veröffentlicht das Erstlingswerk. Aus der Erkenntnis, dass sein Schreiben im Dänischen zu limitiert ist, folgt 1990 mit „Anflüge“ der erste deutschsprachige Roman. „Wenn ich schon schreibe, dann will ich es ganz genau machen.“

Die Heimat seiner Erinnerungen hat er immer wieder besucht, letztes Jahr erst mit seiner Frau. Er staunt jedes Mal, was sich alles verändert hat im Laufe der Jahrzehnte. Ob es weitergeht mit der „fortlaufenden Geschichte“, weiß Nägele nicht. Der kommerzielle Erfolg ist seine Sache nicht: „Ich habe es geschrieben, weil ich es schreiben wollte.“

„Schwimmzüge“, Prosa von Horst W. Nägele (2009, Verlag Turnshare). 13 Euro, ISBN 978-1847900180.